Zeitschrift für Literatur und Kunst
Die Tage werden länger, trotz des Virus, trotz allem, was vor, auf den Treppen und im Parlamentsgebäude „der größten Demokratie, die der Planet seit seiner Existenz kennt“, passiert ist. Ja, nur wenige hätten gedacht, dass die Demokratie solch ein Kleid zur Schau tragen kann.
Ich, der vor 32 Jahren die Chance bekommen hat, eine Demokratie auf der eigenen Haut zu spüren, bin dankbar für die Geschenke, die mir das Land gemacht hat, wo einige Vorfahren der Mutter meiner Kinder geboren wurden – selbst wenn ich immer wieder erzählen muss, woher ich komme, selbst wenn einige Gutmenschen unermüdlich versuchen, mich für die Taten mancher ehemaliger „Landsleute“, mit denen ich nie zu tun gehabt habe, verantwortlich zu machen. Ich muss Glück in diesem Land gehabt haben, von dem ich – wie viele andere heutzutage noch – dachte, dass auf der Straße Milch und Honig fließen.
Doch nach dem, was ich vor Kurzem im Fernsehen gesehen habe, muss ich zugeben: Die Demokratie, von der ich träumte, fließt leider auch nicht auf der Straße.
Die Intoleranz, die jede Meinung unterdrückt, die nicht mit der eigenen übereinstimmt – dieses „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, das mich vor mehr als 30 Jahren zum Exil verurteilt hat –, erschreckt mich heute genauso wie damals. Egal ob es in der Sprache des Landes, das mich aufgenommen hat, oder in der Sprache „der größten Demokratie, die der Planet seit seiner Existenz kennt“, geäußert wird.
Nicht nur die Bilder, die vor, auf den Treppen und im Parlamentsgebäude „der größten Demokratie, die der Planet seit seiner Existenz kennt“, gedreht wurden, erschrecken mich, sondern vor allem die Versammlung unterschiedlicher Strömungen, in denen keiner einen anderen Standpunkt tolerieren und jede Gruppierung ihre eigene „Wahrheit“ durchsetzen will, koste es, was es wolle.
Die in den Universitäten geborene politische Korrektheit, die gerade von jenen, die noch nie eine Universität von innen gesehen haben, mit Beschlag belegt wurde, ist zu Exzessen eskaliert, von denen manch ein gefürchteter Diktator nur träumen konnte. Initiativen, die zunächst unbestreitbare Ungerechtigkeiten zu parieren versuchten, haben noch mehr Ungerechtigkeiten produziert. Es wird eine einzige Wahrheit reklamiert, an die niemand rühren darf, und diejenigen, die andere Meinungen vertreten, werden eingeschüchtert, ausgegrenzt, wenn nicht ausgeschlossen. Der ursprünglich gerechtfertigte Widerstand gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie, Fremdenfeindlichkeit und andere Ausgrenzungen hat sich zur Hexenjagd entwickelt. Die Idee der Vielfalt hat es geschafft zu teilen, statt zu vereinen! Die Plattform Cancel Culture ging so weit, sogar ein Verbot von Shakespeare zu fordern, weil seine Schriften „farbigen Studenten gegenüber feindlich“ seien, um nur ein Beispiel zu nennen. Leuchttürme der universellen Kultur wurden plötzlich zur persona non grata, weil sie das Pech hatten, männlich und – was für eine Unverschämtheit! – weiß zu sein. Gerechte Bewegungen, die friedlich begannen, etwa Black Lives Matter, mündeten in Gewalt. Auch die Wortwahl sollte in der freien Welt eingeschränkt und Wörter wie „Mutter“, „Vater“, „Bruder“, „Schwester“ aus dem Wortschatz gestrichen werden, um die Sensibilität derer nicht zu verletzen, die sich in ihnen nicht erkennen: die Diktatur des Neutrums. Und was ist dann mit denen, die sich in den verbotenen Wörtern erkennen? Das hört sich genauso an wie zu jenen Zeiten, die ich nie wieder erleben wollte. Ich hätte nicht gedacht, die finsteren stalinistischen Ideen nach Jahren in der freien Welt wieder anzutreffen! Ich hatte vielmehr gedacht, das Paradies auf Erden entdeckt zu haben. Und nun frage ich mich, wer oder was niedergerissen wird. Die Freiheitsstatue selbst? Und von wem? Von Linksextremisten, von Rechtsextremisten? Von ihren vereinten Kräften?
„Nachrichten zu verfolgen ist wie ein gute Portion Gift zu schlucken“, das sage ich immer öfter. Wem nützt es, zu wiederholen, was jeder in den neuesten Nachrichten gesehen hat? Wem hilft es, wenn ich mitteile, wie ich mich fühle? Wer versteht diese allgemeine Kakophonie? Welche Handlungen sind notwendig und gerecht, welche destruktiv und absurd?
Allerdings ist mir bewusst, dass es im Laufe der Geschichte schon immer Hass, Korruption und Gewalt gegeben hat; genauso wie die Tatsache, dass trotz unbeschreiblicher Spannungen und Feindseligkeiten das Leben weitergegangen ist. Sollte das die Lehre aus der Geschichte sein? Tun wir weiterhin so, als würde das alles nicht passieren?
Um keine voreilige Antwort zu geben, schlage ich zunächst vor, unter den Nachrichten des Tages auch etwas Erfreuliches zu suchen. Und wenn da nichts zu finden ist, suchen Sie bitte in sich selbst: etwas, von dem Sie sicher sind, dass es existiert – sogar in diesen verrückten Zeiten, in denen wir vor allem Antworten auf Fragen wollen, auf die wir keine Antworten bekommen können. Ich habe jedoch das Gefühl, dass trotz der verstörenden Situation des Augenblicks und im Gegensatz dazu dieses „wunderbare Ding“ neben uns ist, vielleicht in uns, aber das Problem besteht darin, dass wir uns zu weit davon entfernt haben, um es wahrzunehmen …
Ich habe es probiert. Ich, der nicht geglaubt hat, dass in der Demokratie ein Gabelstaplerfahrer besser lebt als ein Ingenieur in der Diktatur. Ich, der nie gedacht hätte, ein Editorial in einer anderen Sprache als meiner Muttersprache zu schreiben und Autoren in einer Sprache zu veröffentlichen, die ich erst als Erwachsener lernen musste. Ich habe es probiert und probiere weiterhin, mir beizubringen, meine „wunderbare Seite“ zu entdecken und sie Ihnen zu schenken. Denn ohne Sie hat meine „wunderbare Seite“ keinen Sinn. Ich selbst habe nur dank der vielen „guten Seiten“ überlebt, die ich bisher geschenkt bekommen habe. Eine davon ist der glückliche Zufall, dass ich einen Autor kennengelernt habe, der vor einigen Tagen siebzig geworden ist.
Eigentlich wollte ich ein Editorial schreiben, in dem ich nichts und niemanden kritisiere, sondern unserem Geburtstagskind , dem Schriftsteller Johann Lippet, gratuliere. Vor allem weil ich ihn bewundere, wie er es geschafft hat, (s)eine Ecke der Welt voller eigener Gedanken und Erinnerungen zu leben und zu verewigen und gleichzeitig uns, seine Leser, zu glücklichen Teilhabern zu machen. Danke, lieber Johann Lippet, für dein Stück Welt, aus dem die Einfachheit und die Natürlichkeit noch nicht verschwunden sind.
„Im Gesamtwerk des Schriftstellers blieben das Banat und das Schicksal seiner Menschen bis zum jüngsten Buch („Franz, Franzi, Francisc“, Romanfragment) ein Leitthema.“ So Luzian Geier über den gefeierten Schriftsteller-Chronisten der Banater Gemeinschaft.
„Johann Lippet“, schreibt Horst Samson, „ist der Chronist des Alltagslebens der Banater Schwaben in der Banater Heide. Sein genauer und kenntnisreicher Blick auf diesen Landstrich, auf die Dörfer und Menschen, ihren Alltag und ihre Erlebnisse in geschichtsträchtigen Vernetzungen mit und in ihren dörflichen Gemeinschaften werden virtuos und im sprachlich authentischen Kolorit erzählt, dokumentarisch verlässlich beschrieben und exemplarisch am Beispiel seiner Heimatgemeinde Wiseschdia literarisch reizvoll verortet.“
Theo Breuer erkennt in Johann Lippets Banat-Büchern literarische Werke, „die verloren gegangener H∙e∙i∙m∙a∙t ein Denk-, Ehren-, Mahnmal setzen“, und hebt die fundamentale Bedeutung „des letzten Satzes des 789 Seiten umfassenden Buchs mit dem bezeichnenden Titel Dorfchronik, ein Roman hervor: Im Grunde genommen erscheint uns jetzt die Wirklichkeit, von der wir erzählt haben, sowieso nur noch als Fundgrube für Fiktion.“
„ich, johann lippet, bin nur indirekt aus dem banat“, schrieb der Autor in der 1980 in Rumänien veröffentlichten und sehr geschätzten biographie. ein muster. Lesen Sie ab Seite 17 einen Auszug daraus, der erstmals in Deutschland erscheint:
„Und weiter: Ich kehre immer wieder zurück. Wie der Täter an den Tatort. Der Vergleich hinkt, ich weiß, es fühlt sich aber so an. (…)
Und ich erinnere mich an Wintermorgen. Wir Kinder liegen bei geöffnetem Fenster in den Betten im hinteren Zimmer, die Tuchent bis unters Kinn gezogen, und wenn dann Mutter, die von der Küche aus den dicken Ofen im Zimmer angeschürt hat, das Fenster wieder schließt, ist die wohlige Wärme, die der Ofen ausstrahlt, regelrecht zu riechen.
Allein schon wegen dieser unvergleichlichen Wärme und dem damit verbundenen Gefühl von Geborgenheit werde ich immer wieder zurückkehren.“
Die „Phantome der Erinnerung“, die sich zwischen diesen zwei Aussagen Johann Lippets bewegen, können Sie auch als Premiere ab Seite 33 lesen. Um ein umfassenderes Bild von seinem Werk zu bekommen, haben wir für Sie einige seiner Gedichte ausgewählt, die in den 70er- und 80er-Jahren in Rumänien entstanden sind. Horst Samson, dem wir nicht nur diese Auswahl, sondern auch die meisten Fotografien dieser Ausgabe verdanken, widmet dem Zelebrierten eines seiner letzten Gedichte.
Selbstverständlich fanden wir, dass eine Ausgabe, die dem „Chronisten des Alltagslebens der Banater Schwaben“ gewidmet ist, mit einem der besten Texte eröffnet werden soll, die der Autor dieses Editorials je über das Banat gelesen hat: dem Gedicht „Banater Elegie“ von Johann Lippets „Aktionsgruppe“-Kollegen und Freund Richard Wagner.
Als ich weiter oben versucht habe, Ihnen den Schwerpunkt dieser Ausgabe vorzustellen, wagte ich die Aussage: „Nachrichten zu verfolgen ist wie ein gute Portion Gift zu schlucken.“ Nun muss ich allerdings zurückrudern: Das trifft nicht immer zu. Mindestens ein Wunder ist in letzter Zeit geschehen: Es gibt viel früher als gehofft die Impfung! Die Impfung, die nach Maskulinum oder Neutrum klingt und tatsächlich so weiblich ist, verspricht, uns allen zu helfen. Ist das nicht wunderbar? Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen, aber ich brauchte so eine Nachricht.
Nun kann ich ruhig weitermachen, um unsere Ausgabe fertigzubekommen. MATRIX stellt Ihnen auch Gedichte von Amiran Swimonischwili (Paco) im Original (georgisch) und in deutscher Übertragung vor sowie Erinnerungen an seine Seltsamkeit, an seine herausragende Originalität, die in keiner Weise in Verbindung zu seinem Dichten stand.
Klaus Martens präsentiert diesmal nicht nur einige seiner neuesten Gedichte, sondern eröffnet auch unsere Recherche „Was wurde uns allen als Bürde mit auf den Weg gegeben? Wie viel davon wollen und können wir tragen?“ Auf ihn folgt Wendel Schäfer, der empfiehlt, dass wir uns kein Buch verbieten lassen.
Über Robert Musil und seinen Mann ohne Eigenschaften trauen sich nicht sehr viele Leser zu sprechen. Ulrich Bergmann tut es, und zwar im Sinne des Romans, was heißt, dass in seinem Essay noch viele Türchen offen bleiben, trotz der respektablen Länge.
Benedikt Dyrlich zeigt uns eine Facette Roms aus dem Jahr 1983, geträumt durch das DDR-Fenster und gesehen durch die DDR-Sonnenbrille.
Und Edith Ottschofski nimmt uns mit in die Berliner S-Bahn, während sie Gedichte schreibt.
Die Rezensenten haben diesmal weniger Platz zur Verfügung. Ihre Leseeindrücke teilen Barbara Zeizinger, Uli Rothfuss und Matthias Buth mit.
Vielen Dank auch an Literaturport.de, wo unsere Zeitschrift aufgenommen wurde. Es war nicht einfach und ich hoffe, dass die Freude nicht nur unsererseits ist, sondern auch seitens derer, die das Portal verwalten oder sich dort informieren. Dieser Erfolg ehrt und verpflichtet uns gleichzeitig. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben nur zu gewinnen.
Ihr Traian Pop
• Richard Wagner • Luzian Geier • Johann Lippet • Horst Samson • Amiran Swimonischwili (Pako) • Beka Kurchuli • Klaus Martens • Wendel Schäfer • Ulrich Bergmann • Edith Ottschofski • Barbara Zeizinger • Uli Rothfuss • Matthias Buth •
Inhalt
Traian Pop • Editorial / S.3
Die Welt und ihre Dichter
Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Richard Wagner • Banater Elegie / S. 9
biographie. ein muster • Johann Lippet zum 70.ten
Luzian Geier • Schriftsteller-Chronist seiner Banater Gemeinschaft . Der Autor Johann Lippet wurde 70 / S. 13
Johann Lippet • biographie. ein muster . ein Banater Schwaben-Epos aus den 80er jahre / S. 17
Johann Lippet • Phantome der Erinnerung / S. 33
Horst Samson • Allegorie . Ein Gedicht für Johann Lippet / S. 86
Johann Lippet • Frühe Gedichte . Die 70er und 80er Jahre in Rumänien. . Eine Text-Auswahl von Horst Samson / S. 89
Amiran Swimonischwili (Pako) • Fünf Gedichte in Original (georgisch) und in deutscher Übertragung / S. 122
Beka Kurchuli • Pako . Erinnerungen eines Freundes / S. 133
Klaus Martens • Fünfzehn Gedichte / S. 139
Zeitgeschichte
Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen?
Traian Pop • Ich wage es... / S. 154
Klaus Martens • (Er) hatte die Wahl zwischen den Kommunisten und den Nazis gehabt. Letztere hatten wohl die schickeren Mützen. / S. 155
Wendel Schäfer • Lasst euch kein Buch verbieten / S. 161
Ulrich Bergmann • Der Mann ohne Eigenschaften – eine Utopie?/ S. 163
Benedikt Dyrlich • Mein Italien 1983 / S. 185
Atelier
Edith Ottschofski • saumselige annäherung . Acht U-Bahn gedichte. / S. 199
Bücherregal
Barbara Zeizinger • Andreas Kossert, Flucht. Eine Menschheitsgeschichte / S. 206
Uli Rothfuss • Harald Gröhler, Frischer Schnee / S. 209
Matthias Buth • Jürgen Brôcan, Ritzelwellen / S. 211