BAWÜLON 1/2020 (37)
Gerade in Zeiten, in denen Konzerte, Lesungen, alle künstlerischen Tätigkeiten nur noch virtuell stattfinden können, ist es umso schöner, dass die neue Bawülon wie immer ihren Weg ganz normal zu Ihnen nach Hause findet. Und wie immer zeichnet sich das Heft durch eine Vielfalt von Autoren und Themen aus.
Beginnen wir mit den ersten Seiten, auf denen Dieter Schlesak und die italienische Dichterin Vivetta Valacca mit Liebeslyrik in einen Dialog treten. Tiefgründig und erotisch berühren uns diese Gedichte umso mehr, als sowohl Schlesak als auch die viel jüngere Vivetta Valacca vor noch nicht allzu langer Zeit gestorben sind. Zu Lebzeiten haben sie sich sehr geschätzt, häufig zusammengearbeitet, die literarische Begegnungsstätte Casa della Poesia gegründet, die über ihren Tod hinaus bestehen bleibt.
Von Herbert Somplatzki lesen wir mehrere Erzählungen, die zwischen den Zeilen oft von seinen biografischen Wurzeln in den Masuren erzählen. Nach vielen Umwegen ist er später wieder in seine Heimat zurückgegangen, wo er sich zusammen mit seiner Frau durch vielfältige Aktivitäten für Begegnung und Verständigung zwischen Polen und Deutschen engagiert hat. In der Laudatio, die der Vorsitzende des Exil-PEN, Professor Dr. Wolfgang Schlott, anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Band für Herbert Somplatzki gehalten hat, lässt er uns an dessen nicht immer einfachem und doch durch seine Arbeit beglückendem Leben teilhaben.
Das Märchen hebt an, guten Abend!, schreibt Peter Gehrisch und arbeitet in seinem sprachgewaltigen und zutiefst philosophischen Essay die immerwährende Bedeutung von Märchen für Kinder und Erwachsene heraus. Diese liegt nicht zuletzt in den Schutzräumen der Phantasie, wie Gehrisch an mehreren Beispielen eindrücklich darstellt.
Kennen Sie die Invasion der Punkte? Nein? Dann sollten Sie das Poem von György Mandics lesen, dem Mathematiker und Dichter aus Temesvar, der seine mathematische Fähigkeit zur Umwälzung der Dichtung einsetzten wollte.
Mehrere Seiten widmet Bawülon dem kürzlich verstorbenen Dichter und Bildenden Künstler Robert Schiff. Er ist 1934 in Temesvar geboren, lernte zunächst das Handwerk eines Uhrmachers und in mehreren seiner Erzählungen und Gedichten spielt die anhand von Uhren sich festmachende Vergänglichkeit der Zeit eine Rolle. Traian Pop Traian schreibt einen emphatischen Text über die Freundschaft, die ihn mit Robert Schiff und seiner ebenfalls dichtenden Ehefrau Julia Schiff verbindet. Und er hat Julia Schiff gebeten, einige Texte hinzuzufügen, die ihr gemeinsames Leben näher beleuchtet. So erfahren wir in ihren humorvollen Texten, wie die beiden mit einem rätselhaften Nachbarn umgegangen sind, und weshalb ihre Hochzeitsnacht anders verlief als üblich.
Eine völlig andere Welt stellt uns Klaus Ferentschik vor, der in einem Interview mit Michael Moritz über die literarische Welt der Pataphysik spricht. Ins Leben gerufen hat diese absurdische Philosophie der französische Schriftsteller Alfred Jarry (1873 -1907), und damit verbunden ist der Autorenkreis Oulipo, zu dem auch der bei uns bekannte Schriftsteller Oskar Pastior zählte. Immerhin heißt es in einem Satz aus dem Interview: Sinnlosigkeit gibt es ja nicht. In dem Wort allein steckt ja schon genug Sinn. Also existiert keine Sinnlosigkeit. Na denn!
Manchmal (eher selten) fallen einem Schriftsteller Themen überraschend in den Schoß. So war es bei Manfred Wolff, der beim Ausräumen der Wohnung der Großmutter seiner Frau ein Buch mit gesammelten Kriegsbriefen des Oberleutnants Carl von Bülow fand, die dieser aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 an seine junge Ehefrau geschrieben hat. Das Vorwort dazu schrieb Bülows Schwager Friedrich von Blücher, und Manfred Wolff erläutert in einem Artikel Verlauf und Bedeutung dieses für Deutschland schicksalhaften Krieges, der bekanntermaßen in Versailles mit der Ausrufung eines Deutschen Kaiserreiches endete. Wolffs Buch wird demnächst im Pop Verlag erscheinen.
Nach so viel Zeitgeschichte können wir uns nun Gedichten zuwenden. Matthias Buth präsentiert seine zarten lyrischen Betrachtungen, und Norina Procopan erkundet poetisch viele Welten, die sich zwischen Orten, Erinnerungen bis hin zur Himbeergroßmutter bewegen.
Vom Rollenwechsel eines Bettlers zum Dienstleistenden im Kapitalismus schreibt Albrecht Schau in seiner witzigen, satirischen Geschichte.
Das Bücherregal zeichnet sich wieder einmal durch Vielfalt und die unterschiedlichsten Themen der vorgestellten Bücher aus. Widmar Puhl beginnt mit einem Thriller von Claus Probst, Die Jagd. Harald Gröhler schreibt über den Gedichtband Absolute Macht von Traian Pop Traian, und Wolfgang Schlott ist von der Idee Bogdan Coșas begeistert, in Die Spitzenelf elf junge rumänische Lyriker und Lyrikerinnen als Fußballmannschaft plus Trainer zu präsentieren. Über menschliche Abgründe schreibt Antonia Munoz Molina in dem Buch Schwindende Schatten, das Uli Rothfuss bespricht, ehe sich Harald Gröhler der schwierigen, aber gleichsam zu Kultbuch aufgestiegenen Abhandlung über das ungarische Mathematikgenie Jánosch Bolyai zuwendet. György Mandics, über den wir schon oben gelesen haben, hat sich zusammen mit seiner Frau Zsuzsanna M. Veress Bolyai anhand von dessen Aufzeichnungen genähert.
Widmar Puhl schließlich erinnert uns an die unbekümmerten Zeiten, in denen man sich treffen konnte, um beispielsweise das umfangreiche DIVAN Lesefest mit vielen internationalen Künstlern zu besuchen. Der Titel nimmt Bezug auf den West-Östlichen Divan von Goethe und ebenso auf das Buch von Widmar Puhl, Suleikas rebellische Töchter, das er uns vorstellt. Wir enden musikalisch mit Widmar Puhls Bericht über das Silvesterfeuerwerk des SWR.
Bleiben Sie gesund und lassen Sie uns gemeinsam hoffen, dass mit der nächsten Ausgabe von Bawülon die Welt schon wieder ein bisschen besser aussieht. An uns soll es nicht liegen, wir werden auf jeden Fall auch dann wieder interessante Texte liefern.
Barbara Zeizinger
Es signiert:
• Dieter Schlesak • Luce/Licht . Zeit Los brennt dieses Licht hier • In memoriam Vivetta Valacca • In memoriam Robert Schiff • Bundesverdienstkreuz am Band für Herbert Somplatzki • Julia Schiff • Peter Gehrisch • György Mandics • Klaus Ferentschik • Michael Moritz • Manfred Wolff • Friedrich von Blücher • Deutsch französischer Krieg / Kriegsbriefe aus den Jahren 1870-71 • Carl von Bülow • Matthias Buth • Norina Procopan • Albrecht Schau • Widmar Puhl • Wolfgang Schlott • Harald Gröhler • Uli Rothfuss •
Inhalt
Barbara Zeizinger • Editorial / S. 5
Die Welt und ihre Dichter
Dieter Schlesak & Vivetta Valacca • „Luce/Licht . Zeit Los brennt dieses Licht hier“ . Gedichte / S. 7
Herbert Somplatzki • Damals im Sommer . Prosa / S. 29
Herbert Somplatzki • Oh du Fröhliche . Prosa / S. 33
Herbert Somplatzki • Tadeusz . Prosa / S. 35
Herbert Somplatzki • Der alte Mann und die Erde / S. 40
Herbert Somplatzki • Endspurt . Prosa / S. 43
Herbert Somplatzki • Trümmergesicht . Prosa / S. 48
Herbert Somplatzki • Bauherrenmodell . Prosa / S. 52
Wolfgang Schlott • Laudatio auf Herbert Somplatzki aus Anlass der Überreichung des Bundesverdienstkreuzes am Band / S. 55
Peter Gehrisch • Das Märchen hebt an, guten Abend! In den Schutzräumen der Phantasie . Prosa / S. 60
György Mandics • Auf der Suche nach der Muttererde . Ein Poem / S. 80
Robert Schiff • Wir und die Uhren . Prosa / S. 92
Robert Schiff • Sieben Bilder / S. 97
Robert Schiff • Vier Gedichte / S. 99
Robert Schiff • Blick in den Brunnen . Prosa / S. 107
Julia Schiff • Am Rande eines Aquarells von R. Sch. / S. 112
Julia Schiff • Märchengestalt . Prosa / S. 113
Traian Pop • Euer Verleger und Freund … / S. 116
Julia Schiff • Eine Hochzeit ohne Gleichen / S. 119
Robert Schiff • Falsche Fuffziger . Romanauszug / S. 124
Klaus Ferentschik antwortet
Michael Moritz fragt • Selbst Regeln sind Ausnahmen. Wenn es eine Ausnahme gibt, ist diese eine Ausnahme der Ausnahme. / S. 134
Zeitgeschichte
Manfred Wolff • Notiz zur „Carl von Bülow, Kriegsbriefe aus den Jahren 1870-71.“ / S. 141
Friedrich von Blücher • Biografisches Vorwort / S. 143
Carl von Bülow • Kriegsbriefe aus den Jahren 1870-71 / S. 148
Manfred Wolff • Deutsch-französischer Krieg / S. 159
Atelier
Matthias Buth • Fünf Gedichte / S. 163
Norina Procopan • Neun Gedichte / S. 169
Albrecht Schau • Vom Betteln / S. 178
Bücherregal
Widmar Puhl • Claus Probst . Die Jagd – Am falschen Ort. / S. 184
Harald Gröhler • Traian Pop Traian . Absolute Macht / S. 186
Wolfgang Schlott • Danilo Kiš . Psalm 44 / S. 190
Uli Rothfuss • Teil haben an menschlichen Abgründen . Über „Schwindende Schatten“ von Antonio Munoz Molina / S.193
Harald Gröhler • György Mandics / Zsuzsanna M. Veress . Aus den Aufzeichnungen von János Bolyai. / S. 196
Aus der Kulturszene
Widmar Puhl • „Poesie als Kulturbrücke . Das DIVAN-Lesefest / S. 199
Widmar Puhl • Zum Teufel mit der Angst vor Tiefgang! / S. 210
Widmar Puhl • Musikalisches Silvester-Feuerwerk / S. 212