Seit ich das Editorial für BAWÜLON übernommen habe, fing ich jedes Mal damit an, mich zu beklagen, in welchen seltsamen, schwierigen, schrecklichen Zeiten wir leben; und auch jetzt könnte ich viele Probleme aufführen, mehr noch, seit der letzten Ausgabe weitere hinzufügen. Doch da wir am Beginn eines neuen Jahres stehen und uns und unseren Lieben in der Silvesternacht vielleicht beim Abbrennen von Wunderkerzen gewünscht haben, das neue Jahr möge ein gutes werden, möchte ich, obwohl ich es besser weiß, diesmal Hermann Hesse zitieren: »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.« Zumindest wird jemand, der schreibt und liest, immer wieder etwas Neues für sich entdecken. Um es mit den Worten von Peter Handke zu sagen, der schon 1967 unter der Überschrift »Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms« schrieb: »Ich erwarte von einem literarischen Werk eine Neuigkeit für mich, etwas, das mich, wenn auch geringfügig, ändert, etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewusste Möglichkeit der Wirklichkeit bewusst macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu existieren.« Und so werden wir wenigstens den Zauber der vorliegenden Literatur betrachten, auch wenn sie uns wieder ein Stück weit in die Realität zurückholt.
Da einer der Schwerpunkte des Heftes der Verleihung des
3. Rolf-Bossert-Gedächtnispreises (2022) gewidmet ist, stehen die Gedichte dieses 1986 jung verstorbenen Dichters am Anfang, von dem der Initiator des Preises Hellmut Seiler in seiner Einführung Bosserts Reduktion und Konzentration betont. »Keines dieser dichten sprachlichen Gebilde ist geschwätzig oder weitschweifend, da ist kein Wort zuviel.« Der Preis erfreue sich übrigens zunehmender Aufmerksamkeit, werde in Literaturzeitschriften publiziert und die Anzahl der Bewerbungen sei stetig gestiegen. Es gibt also immer mehr Autoren und Autorinnen, die sich für diese Bewerbung mit den Gedichten Rolf Bosserts auseinandersetzen und sie vielleicht zum ersten Mal oder wieder neu lesen.
Es folgen Gedichte der venezolanischen Dichterin Jacqueline Goldberg. Darin blickt sie unter anderem auf ihre jüdischen Wurzeln. Sie und ihre Mutter sind in Venezuela geboren, während ihr Vater und alle vier Großeltern Emigranten sind. »Das hat meinem Alltag und meiner Sichtweise auf die Welt eine ganz andere Perspektive gegeben«, sagt sie und da sind wir bereits bei dem Thema Flucht, das noch in einem anderen Zusammenhang auftauchen wird. Im anschließenden sehr interessanten und, was ihre Thesen betrifft, ungewöhnlichen Gespräch mit Nicola Quaß geht sie darauf ein, inwiefern die Familiengeschichte ihre Sprachfindung beeinflusst hat und welche gesellschaftliche Rolle sie der Poesie beimisst.
Anschließend gibt es Illustrationen von Nicola Koch aus dem Buch Das Ohr. Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen, das sie zusammen mit dem Autor PH Gruner herausgegeben hat. Im Kapitel Bücherregal hat Barbara Zeizinger das Buch vorgestellt.
Von PH Gruner lesen wir die Geschichte eines Koffers, der 1932 in Berlin gepackt, in Sanary-sur-Mer verschlossen in eine Ecke gestellt wird, später in Paris und noch später in der Ostsee landet. Allein die Jahreszahl 1932 und der Ort Sanary-sur-Mer verrät uns, dass die zu dem Koffer gehörenden Menschen geflohen sind.
Alexander Estis hat ein Buch Fluchten geschrieben, in dem er neben grotesk-surrealen Beispielen auch Fluchtgeschichten von Menschen aus der Ukraine und Russland aufgenommen hat. Ein paar Beispiele von Fluchtmotiven stellt er uns vor. Das aktuellste ist die Geschichte Ruß, in der Polja mit ihren Kindern in einem Kohlezug flieht »und schon am Donnerstagmorgen beginnt wieder der Krieg, und als in Kiew die Bomben fallen, steigt Poljas Urenkelin in den Zug.«
»Auch wenn ich Alice manchmal beobachtet hatte, wie ein seltenes Insekt, ich mochte sie.« Dieser Satz steht im letzten Abschnitt von Charlotte Ueckerts Geschichte Unzufrieden, in der sie von einer nicht unkomplizierten Frauenfreundschaft erzählt.
Zwei Preisträger und eine Preisträgerin können wir in diesem Heft feiern. Im August dieses Jahres wurden bei den Deutschen Literaturtagen in Reschitz Bastian Kienitz mit dem Rolf-Bossert-Gedächtnispreis geehrt und Robert Klages als Gewinner eines Preises des Deutschsprachigen Wirtschaftsklubs „Banat“ Temeswar ausgezeichnet, während etwas später im fränkischen Stein bei Nürnberg Irma Shiolashvili den KOGGE- Literaturförderpreis der Stadt Stein erhielt. Allen Ausgezeichneten herzlichen Glückwunsch. Lesen Sie die Wort und Bild verbindenden Gedichte von Bastian Kienitz und die Laudatio von Alexander Estis für den promovierten Neurobiologen, von dessen Gedichten er sagt, sie würden formstrenge und zugleich formsprengende Elemente enthalten.
Zu viel Poesie
Es sollte nur drei Gedichte geben auf der Welt
Eins davon ist dies
Die zwei anderen schreib ich
Morgen
Und Übermorgen
Auf dem Weg nach Panama
Dies ist ein Gedicht von Robert Klages, sechs weitere können Sie in diesem Heft finden.
Irma Shiolashvili lebt mit ihrer Familie in Deutschland, ihre Heimat ist aber Georgien. Sie hat in beiden Ländern publiziert und ist, wie Uli Rothfuss in seiner Laudatio betont, durch ihre Liebe zur Lyrik eine Verbinderin zwischen Kulturen. Die Balance von Vergangenheit und Gegenwart spielt in ihren Gedichten eine große Rolle. »Es hat einen besonderen Reiz, etwas nicht zu haben, aber trotzdem daran zu glauben«, lauten zwei Zeilen.
Ich war noch nie in Hermannstadt (rumänisch Sibiu), kann mir aber nach der Lektüre der vorgestellten Auszüge aus dem Buch Dagmar Dusils Mit Erinnerungen gepflastert, eine lebhafte Vorstellung dieser Stadt machen. Zumindest eine aus der Zeit, die in den Beispielen beschrieben wird. Das beginnt mit einem Auszug aus Hipodrom, einem sehr sinnlichen Spaziergang der rumänischen Dichterin und Übersetzerin Nora Iuga, wird von Hannes Elischer mit der Betrachtung der Walkmühlgasse und von Kurt Thomas Ziegler mit einem kleinen Stück des alten Hermannstadt redivivus, sprich SchwimmSchulgasse und Erlenpark, fortgesetzt. Weiter hinten im Heft, gibt es dann eine zusammenfassende Rezension von Walter Fromm über Die Serenissima Siebenbürgens. Bei allen erwähnten Texten wird deutlich, dass die Beschreibungen von Straßen, Häusern und Menschen, gleichzeitig ein Panorama der Zeitläufe und der sich verändernden Gesellschaft darstellen.
Zurück in die deutsche Vergangenheit und der damit zusammenhängenden Gegenwart begeben wir uns mit Matthias Buth. Sehr anerkennend schreibt er über Lutz Rathenow, diesen Dissidenten und Dichter, diesen Prosaisten und Lyriker, der in der DDR wegen seiner mutigen Texte und Interviews immer wieder aneckte, von der Stasi beobachtet wurde und nun seinen 70. Geburtstag feiert.
Im Atelier begegnen wir zwei weiteren Lyrikerinnen. Barbara Jurkowska, deren Gedichte von Peter Gehrisch aus dem Polnischen übertragen wurden und Margit Jordan. Sie steuert unter anderem auch ein Gedicht im »underlända dialekt« bei: da summa geht umma. Um es zu verstehen, sollten Sie das Gedicht vielleicht laut lesen.
Dass es für Buchhandlungen immer schwieriger wird zu wirtschaften, ist allgemein bekannt. Wie schlimm es aber für einen Buchhändler steht, beschreibt Ewart Reder in zugespitzter ironisch-satirischer Form in seiner Geschichte Paranormale Beziehun-
gen.
Außer den bereits erwähnten Büchern stehen noch weitere im Bücherregal. Uli Rothfuss schreibt über Kristin Vallas Roman Das Haus über dem Fjord. Widmar Puhl bespricht zwei Bücher, zum einen Sedimente der Zeit von Peter Frömming, das sich mit Brücken beschäftigt, und zum anderen ist er über die interdisziplinäre kognitionsbiologische Spurensuche von Ludwig Huber, Das rationale Tier begeistert. Horst Landau hat Harald Gröhlers Kölnkrimi Astreines Alibi gelesen und Regine Kress-Fricke beschäftigt sich in Unter der Asche die Glut mit der Lyrik von Wolfgang Bittner. Darin findet sie Gedichte über den Krieg und Visionen mit beängstigender Aktualität. Und allen, die nicht an die Kraft der Poesie glauben entgegnet sie: »Immerhin gibt es in der Geschichte etliche Beispiele wie Literatur wahrnehmbar (Bewusstseins-) Änderungen angestoßen hat.«
Um an den Anfang dieses Editorials zurückzukommen. Auch Musik kann man immer wieder neu und anders hören. Davon berichtet uns (mit seiner üblichen ansteckenden Begeisterung) Widmar Puhl, der einen heiteren Musikabend ‒ Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart tanzt ‒ erlebt hat und bei einer Hommage für den frühbarocken Musiker Heinrich Schütz zum 350. Todestag durch die Degerlocher Kantorei dabei war.
Vor ein paar Tagen sah ich im Fernsehen einen Bericht über die ukrainische, schwer getroffene Stadt Charkiw. Darin fragte eine Reporterin einen Bewohner, was er sich zu Weihnachten wünschen würde. »Ich wünsche mir Frieden für meine Stadt«, antwortete er, »und für mich einen Schutzengel.« Sicherlich hat er einen Schutzengel viel nötiger als wir. Dennoch hoffe ich, dass die Schutzengel sich die Arbeit teilen und sie auch für uns etwas Zeit übrig haben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gutes neues Jahr!
Ihre
Barbara Zeizinger