Dieter Schlesak: Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr. Roman. Reihe Epik Bd. 127, 503 Seiten, ISBN: 978-3-86356-346-2, €[D] 29,00
„Also das Einzige, was noch möglich ist heute nach all dem Wahnsinn, sind Irrenromane!“, stellt der Erzähler apodiktisch fest. Nach dem Tod seiner Mutter, der ihn völlig aus der Bahn geworfen hat, hält er sich als „Freigänger“ in einer psychiatrischen Anstalt auf, wo er in einem manischen Schreibprozess versucht, dem zersplitterten Bewusstsein seiner selbst auf den Grund zu gehen, indem er seine ihm mittlerweile abhandengekommene Lebenswelt in den Zeilen auf dem Bildschirm des Laptops „wirklich“, also Text werden lässt: „Und jede schöne alte Erinnerung samt den Gedanken dazu mit ihrer Langsamkeit ist jetzt nur noch im Buch geborgen und zusammengeführt. Was suchst du da? Erleuchtung? Berührung? Dass das Wirkliche identisch sei mit dem Geschriebenen?“ Der abgespaltene Teil seines Ich, das früher am Leben teilhatte, darüber hinaus aber auch die Gegenwart des Erzählers in der Anstalt mitbestimmt, nennt er Michael Terplan: „Und dann sagte mir Terplan, es sei schon so, ich solle nicht erschrecken, er sei ja ich, wenn er da sei, aber es sehe ihn niemand, nur ich, nun ja, er sei einfach ein Gespenst meiner Erinnerung … mein wichtigstes Gespenst … aus der Zeit, als es mich noch gab.“
Um Gespenster jedoch handelt es sich in den hier evozierten Erinnerungen keineswegs, es gibt da keine Spukgestalten, sondern nur die Stimmen all der Toten, die Terplan als nahe Verwandte und Freunde auf seinem Lebensweg begleitet haben und ihm nun wieder – voraussichtlich zum letzten Mal – im wahrsten Sinne des Wortes durch den Kopf geistern: „Praeterita mutare nemo potest … Aber vielleicht stimmt der Spruch gar nicht: Was vergangen ist, kann auch heute noch verändert werden, denn sie sind da, und wenn sie nicht tot sind, kann auch die Vergangenheit nicht vergangen sein. Auch deshalb bin ich von diesem Experiment fasziniert, die Vergangenheit darf, wie die Zukunft, nicht vergangen sein.“ Und so bricht er, vom Klinikpersonal argwöhnisch beäugt, Tag für Tag unverdrossen auf, um sich im Zuge seiner gedanklichen Rückkehr des gesamten biografischen Ballastes zu entledigen und frei zu werden für das „Offene“, das er in den Gesprächen mit den Toten sucht und bei seinem eigenen Tod zu erreichen hofft: „Das wäre ein Entkommen aus der eigenen schmerzlichen Biografie; wenn der quälende Berg von Erinnerung, Tradition, Vaterordnung samt Begrifflichkeit und bis hin zu den Kriegen und Ideologien verlassen ist, gibt es den offenen neuen Augenblick, das Unbetretene.“
Der Wahnsinn, der dem Erzähler zusetzt, bezeichnet nämlich nicht allein seine persönliche Verfassung als Patient in einer Nervenheilanstalt, sondern ist vielmehr und hauptsächlich symptomatisch für das ganz reale Geschehen während des 20. Jahrhunderts, das auch sein Leben geprägt und mit den Katastrophen der beiden Weltkriege, der zwei Diktaturen sowie der systematischen physischen und psychischen Auslöschung von Millionen Menschen bis in Terplans alltägliches Umfeld und seine Familie hineingereicht und auch ihn von Kindertagen an für das weitere Leben geschädigt hat.
Zwangsläufig greift der Autor bei diesem Experiment der geistigen Befreiung und gleichzeitigen Öffnung für Übersinnliches, ja letztlich für das Numinosum, auch auf eine ganze Reihe autobiografisch geprägter Szenen zurück, die seinen Lesern aus den Romanen Vaterlandstage und TranssylWAHNien bekannt sein dürften, doch werden sie hier in einem völlig anderen Kontext, also auch mit einer völlig anderen Zielsetzung neu zusammengefügt: „Zähl die Jahre. Jetzt sind sie da. Die Kuckucksuhr mit dem Holzkuckuck, der schlug viertelstundenweise den Tod an, verneigte sich davor, bunt.“ Denn im Exitus letalis erkennt der Erzähler nun die einzige Möglichkeit einer „Heimkehr“ – „auch wenn es keiner glauben will“. Und resümiert angesichts der bevorstehenden Elektroschocks, die ihn seines Gedächtnisses berauben werden, nicht nur voller Angst vor den Schmerzen, sondern auch voller Zuversicht auf das baldige Verschmelzen im Tod mit dem EINEN: „Was bleibt? Zeit ist reine Illusion; es gibt sie nicht, nur unser Älterwerden, das aber lässt sich nicht so einfach berechnen … Jahre … Unsinn … Nichts mehr kann mir passieren, es ist ja schon passiert.“ Was aber tatsächlich bleibt, hat der Dichter Dieter Schlesak gestiftet: seinen nun posthum veröffentlichten Roman „Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr“.
Lieferbare Titel von Dieter Schlesak:
- Poesie/poésie Zeitgenössische Dichtung aus Frankreich und Deutschland ISBN: 3-937139-00-1. 168 Seiten:14,5 × 20,5 cm. 14,00Eur[D] / 15,00 Eur[A] / 24,40 sFr.
- Rodica Draghincescu: Schreibenleben. (FRAGMENTARIUM Sammlung) Literaturkommentar in ungewöhnlicher Form: Interviews mit Kulturpersönlichkeiten. Format 14,0 x 20 cm, ca. 320 Seiten, ISBN: 3-937139-03-6. Preis: 23,60 Euro.
- Romaniţa Constantinescu, (Hrsg.), Im kalten Schatten der Erinnerung. Eine Anthologie zeitgenössischer Prosa aus Rumänien. (EPIK- Sammlung); 332 Seiten, ISBN: 978-3-937139-76-0, €[D] 20,00
- Nichita Stănescu: Elf Elegien. Gedichte, (LYRIK Sammlung) 75 Seiten, 20,0 × 14,0 cm; ISBN: 3-937139-06-0; Preis: 12,70 Euro.
- Namen Los, Liebes- und Todesgedichte. (LYRIK- Sammlung); 119 Seiten, 20,0 × 14,0 cm; ISBN: 978-3-937139-30-3, €[D]14,20
- Vlad. Dracula – Korrektur. Roman. (EPIK- Sammlung); 200 Seiten, 20,0 × 14,0 cm; ISBN: 978-3-937139-36-2, €[D]16,20
- VLAD, DER TODESFÜRST. Die Dracula-Korrektur. 2., neu bearbeitete und ergänzte Auflage. Roman. (EPIK- Sammlung); 206 Seiten, 14,0 × 20,0 cm; ISBN: 978-3-937139-57-9. €[D]16,20.
- DER TOD UND DER TEUFEL. Materialien zu „VLAD, DER TODESFÜRST. Die Dracula-Korrektur“ (FRAGMENTARIUM- Sammlung); 232 Seiten, 14,0 × 20,0 cm; ISBN: 978-3-937139-75-3; €[D]16,00
- Heimleuchten, (LYRIK- Sammlung); 120 Seiten, 14,0 × 20,0 cm; ISBN: 978-3-937139-77-7. €[D]14,40.*Eine Vorzugsausgabe ist erschienen. (Ludwigsburg: Pop, 2009 ISBN: 978-3-937139-78-4). Die Exemplare, von 1 bis 60 nummeriert, wurden auf Munken Print Cream 115g/qm 1,8-faches Volumen Papier gedruckt (Umschlag: 250g/qm SoporSet, Schutzumschlag: 160g/qm SoporSet), und vom Autor einzeln signiert.
- Heimleuchten, (LYRIK- Sammlung); 120 Seiten, Vorzugsausgabe. Die Exemplare, von 1 bis 60 nummeriert, sind auf Munken Print Cream 115g/qm 1,8-faches Volumen Papier gedruckt (Umschlag: 250g/qm SoporSet, Schutzumschlag: 160g/qm SoporSet), und vom Autor einzeln signiert.; ISBN: 978-3-937139-78-4. € [D] 30,00
- Jürgen Egyptien, George Guţu, Wolfgang Schlott, Maria Irod (Hrsg.) SPRACHHEIMAT. Zum Werk von Dieter Schlesak in Zeiten von Diktatur und Exil. ISBN: 978-3-937139-85-2. 29,90 Euro.
- Licht Blicke. (Lyrik- Sammlung) 115 S. ISBN: ISBN: 978-3-86356-044-7, € [D] 14,80– € [AT] 15,– SFr [CH] 22,–
- Horst Samson (Hrsg.): Heimat – gerettete Zunge. Visionen und Fiktionen deutschsprachiger Autoren aus Rumänien. Eine literarische Begegnung. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Wolfgang Schlott. (UNIVERSITAS Sammlung) 373 S. ISBN: 978-3-86356-051-5, € [D] 25,– € [AT] 25,– SFr [CH] 35,–
- TRANSSYLWAHNIEN. Roman. Die POP-Verlag-Epikreihe; Bd. 54. 348 Seiten, ISBN 978-3-86356-090-4; €[D]18,20
- “EIN BUCHSTAB BLEIBT Auf grünem Zweig”. Tagebuchgedichte und ein Essay. Die POP-Verlag-Lyrikreihe; Bd. 73; ISBN 978-3-86356-101-7; 154 Seiten; €[D]17,80
- LYRIKARCHÄOLOGIE. Gedichte und Gedanken. Reihe Lyrik Bd. 152, 226 Seiten, ISBN: 978-3-86356-313-4, €[D]19,90
- Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr. Roman. Reihe Epik Bd. 127, 503 Seiten, ISBN: 978-3-86356-346-2, €[D] 29,00